Meine Multihalle –
Ein Gespräch mit Lothar Quast & Prof. Dr. Georg Vrachliotis

Die Multihalle hat eine besondere Geschichte. Wohl niemand kennt sie so gut wie der Karlsruher Architekturtheoretiker Prof. Dr. Georg Vrachliotis. Mit Lothar Quast, Baubürgermeister der Stadt Mannheim, traf er sich in der Multihalle – zu einem Gespräch über die Geschichte und die Zukunft dieses einzigartigen Mannheimer Bauwerks.


Georg Vrachliotis
      Herr Quast, Sie stammen aus Nordrhein-Westfalen und sind erst nach ihrem Jurastudium nach Mannheim gewechselt. Das war fünf Jahre bevor Sie 1989 hier zum Baubürgermeister gewählt wurden. Können Sie sich eventuell an Ihren ersten Besuch in der Multihalle erinnern?

Lothar Quast       Gute Frage … aber ehrlich gesagt kann ich nicht genau sagen, wann ich zum ersten Mal die Multihalle besucht habe. Aber ich weiß noch sehr genau, dass ich von der einzigartigen Architektur sehr beeindruckt war. Ich erinnere mich an eine Vielzahl interessanter Veranstaltungen in der Halle, die in den 90er Jahren sehr multifunktional genutzt worden ist: als Ort für Veranstaltungen von Kultur bis zu Sport.

Georg Vrachliotis       Sie sind meines Wissens der dienstälteste Baudezernent der Republik und haben in den letzten beiden Jahrzehnten sehr viele städtebauliche Großprojekte begleitet. Was ist für Sie persönlich das Besondere an der Multihalle?

Lothar Quast       Nicht nur aus meiner Sicht besitzt die Multihalle für die städtebauliche Entwicklung der Stadt Mannheim eine besondere Bedeutung. Sie steht ja symbolisch für den Wandel hin zu einer innovativen, modernen und architektonisch anspruchsvollen Stadt. Die Multihalle ist ein einzigartiges baukulturelles Erbe! Und jetzt erleben wir, dass sie Menschen aus aller Welt begeistert. Architekten, Städteplaner und Wissenschaftler genauso wie Mannheimer Bürger.

Georg Vrachliotis       Aus architekturhistorischer Sicht ist die Multihalle tatsächlich das bedeutendste moderne Baudenkmal der Stadt Mannheim – teilen Sie meine Einschätzung?

Lothar Quast       Ja, und ich vermute, dass sie nicht nur von mir geteilt wird. Markus Müller, der Präsident der Architektenkammer Baden-Württemberg, hat beispielsweise daraufhin hingewiesen, dass die Multihalle für Mannheim ein ähnliches Potenzial hat wie seinerzeit der Eiffelturm für Paris, der ja wie die Multihalle zunächst auch nur als temporäres Bauwerk errichtet worden ist. Professor Stephan Engelsmanns, der Präsident der Ingenieurkammer Baden-Württemberg, hat die Multihalle sogar als bedeutendstes Mannheimer Bauwerk bezeichnet. Unbestritten ist jedenfalls die Tatsache, dass mit Frei Otto einer der renommiertesten Architekten unserer Zeit in Mannheim gewirkt hat, der ja auch mit dem Pritzker-Preis ausgezeichnet wurde, einem der bedeutendsten Architekturpreise der Welt.

Georg Vrachliotis       Die Multihalle steht wie kein zweites Gebäude des 20. Jahrhunderts für die technische und die emotionale Kraft des experimentellen Denkens. Der Entwicklungsprozess zum Neustart der Halle hat diese Bedeutung der internationalen Architekturszene bekannt gemacht und heute schaut ganz Deutschland auf Mannheim. Momentan habe ich aber noch den Eindruck, dass viele Mannheimer den Wert und den Rang des Bauwerks als nationales Baudenkmal noch gar nicht richtig ermessen können …

Lothar Quast       Ich denke, dass auch die Mannheimer Bürger die Bedeutung der Multihalle zunehmend erkennen und mittragen. Dazu gehört es selbstverständlich, dass die Potentiale der Halle von den Menschen bei Veranstaltungen auch erkannt und genutzt werden. Das versuchen wir in diesem Jahr mit dem Programm Sharing Heritage zu erreichen. Die Ausstellung BUGA 75 im Mannheimer MARCHIVUM wird dazu sicher auch ihren Beitrag leisten.

Georg Vrachliotis       Ab 24. März wird diese Ausstellung mit dem Titel „Ein Fest verändert die Stadt“ die Bedeutung der BUGA 1975 für Mannheim beleuchten. Wie lässt sich denn das Konzept der Gartenschauen auch mit der kommenden BUGA 2023 als Motor für die Mannheimer Stadtentwicklung nutzen?

Lothar Quast       Die Mannheimer BUGA 75 war mit mehr als 8,1 Millionen Besuchern eine der erfolgreichsten Bundesgartenschauen. Unter anderem mit dem Ausbau des Luisen- und Herzogenriedparks, dem Fernmeldeturm, der Fußgängerzone, der Siedlung Herzogenried oder der Multihalle hat sie nachhaltige Beiträge zur modernen Stadtentwicklung Mannheims geleistet. Ein umfangreiches Veranstaltungsprogramm und Attraktionen wie der Aerobus, der die Parks miteinander verband, haben die BUGA erfolgreich gemacht. Die Multihalle war mit ihrer futuristischen hölzernen Konstruktion ein architektonischer Glanzpunkt. 2023 wird Mannheim nun erneut eine BUGA ausrichten, deren Thema wieder der Wandel von der Industriestadt hin zur grünen Stadt ist.

Georg Vrachliotis       Die Multihalle ist ein Gemeinschaftswerk des Mannheimer „Sohnes“ und Architekten Carlfried Mutschler mit Frei Otto, den er zur Entwicklung der Dachkonstruktion eingeladen hat. Wie beurteilen Sie Mutschlers Rolle für die Mannheimer Stadtentwicklung und wie hat er das Stadtbild nachhaltig geprägt?

Lothar Quast       Carlfried Mutschler trat in Mannheim durch eine Vielzahl bemerkenswerter Bauten hervor. Bereits in den 1960er Jahren bewies er mit der organisch geformten Friedrich-Ebert-Schule, der gläsernen Pfingstbergkirche und der aus Sichtbeton gestalteten Lukaskirche sein außergewöhnliches architektonisches Können. Es hat weit über Mannheim hinaus in der Fachwelt Beachtung gefunden. Damals entstand auch sein bemerkenswertes Wohn- und Atelierhaus in den Quadraten, das heute wie viele andere seiner Gebäude unter Denkmalschutz steht. Mutschler war ein Architekt mit hohem Anspruch an die funktionale und baukünstlerische Gestaltung. Er schuf jeweils höchst individuelle Bauten, Solitäre, die sich dennoch in das Stadtbild gut einfügen. Wichtige Beiträge für die Stadtentwicklung Mannheims leistete er mit der Siedlung Herzogenried, die ja gleichzeitig mit der Multihalle entstand, selbstverständlich auch mit dem Ausbau des Herzogenriedparks, ebenfalls zur Bundesgartenschau 1975.
In den 80er und 90er Jahren bildeten sein eindrucksvoller Neubau der heutigen Reiss-Engelhorn-Museen in D 5, das Stadthaus in N 1 und der Geschäfts- und Hotelkomplex in N 6 überaus bedeutende Entwicklungsmaßnahmen für die Innenstadt. Mutschler wirkte darüber hinaus als Gutachter und Berater bei verschiedenen Bauprojekten und war langjähriges Mitglied des Planungsbeirats der Stadt Mannheim.

Georg Vrachliotis       Frei Otto hat die Multihalle als einen Ort für eine offene Gesellschaft geplant – im Sinne des Frei Otto’schen Denkens soll die Multihalle wieder zu einem vielseitig nutzbaren Raum der Möglichkeiten werden. Ist die Multihalle für Sie ein Symbol der gemeinwohlorientierten Mannheimer Stadtentwicklung?

Lothar Quast       Gemeinsam mit einer engagierten Gruppe aus Kulturschaffenden, Architekten, Nachbarn, Bürgern, Ingenieuren und Universitäten arbeitet die Stadt Mannheim an einem nachhaltigen Konzept für die Halle im Herzogenriedpark, um damit ihren langfristigen Erhalt sicherzustellen. Dieser offene und kollektiv gestaltete Prozess ist in dieser Form einmalig. Die von Ihnen mitorganisierte und ko-kuratierte Ausstellung „Sleeping Beauty – Reinventing Frei Otto´s Multihalle“ auf der Architekturbiennale in Venedig hat hierfür ja ebenfalls einen wichtigen Baustein geliefert.

Georg Vrachliotis       Mit über 50 Einreichungen aus aller Welt ist die Resonanz auf den Multihalle-Ideenwettbewerb „Democratic Umbrella“ höher als erwartet ausgefallen – besonders junge Architekten sind von der Multihalle fasziniert. Was erhoffen Sie sich von den Ergebnissen?

Lothar Quast       Die Multihalle besitzt eine große Aktualität. Wir erhoffen uns gerade von den jungen Architekten Ergebnisse, die Mut machen, das Projekt experimentell in die Zukunft zu entwickeln. Die Ergebnisse des Ideenwettbewerbs werden wir bei der Eröffnung der BUGA 75-Ausstellung im MARCHIVUM vorstellen. Die Multihalle hat Mannheim auf die Landkarte der modernen Architektur gesetzt. Herr Vrachliotis, wie schätzen Sie denn dieses Potenzial ein und wie kann man es zukünftig nutzen?

Georg Vrachliotis       Frei Otto erhielt den Pritzkerpreis nicht nur für sein architektonisches Werk, sondern auch als Humanist. Frei Otto sah in seinen Modellen kulturelle Indikatoren, die in ihrer Bedeutung häufig über die rein physische Haptik des einzelnen Objektes hinausgehen und als experimentelle Symbole für eine offene Gesellschaft gelesen werden müssen. Die Multihalle verkörpert dies wie kein zweites Gebäude des 20. Jahrhunderts. Daraus erschließt sich auch die große gesellschaftliche Bedeutung und ihr Potential für die Stadt Mannheim. Im zweiten Weltkrieg hat Mannheim – wie andere deutsche Städte auch – viel wertvolle historische Bausubstanz verloren. Mit modernen Baudenkmälern wie der Multihalle können diese Lücken erfolgreich geschlossen werden.

Lothar Quast       Ich denke auch, dass Bauten wie die Multihalle, aber auch das Nationaltheater für eine jeweilige Architektursprache stehen, die die Menschen und Ihre Bedürfnisse in den Blick nimmt. Das Theater als Gefäß der Hochkultur, die Multihalle ganz klar als ein Ort auch niedrigschwelliger Formate. Beides sind Orte, die uns im Zeitalter der Digitalisierung sozusagen analoge Begegnungen ermöglichen.

Georg Vrachliotis       Niedrigschwellige Angebote sind ein gutes Stichwort. „Man muss mehr denken, mehr forschen, entwickeln, erfinden und wagen“ ist eine zentrale Aussage Frei Ottos, und das lässt sich sehr gut auch auf moderne Mannheimer Stadtentwicklung anwenden. Aber wie, Herr Quast, kann das gelingen, ganz „normale Mannheimer“ aktiv in den Entwicklungsprozess der Halle einzubeziehen?

Lothar Quast Tatsächlich ist es die Aufgabe von Stadtentwicklung, Antworten auf die immer komplexer werdenden Fragen unserer Städte zu formulieren. Wir haben in den letzten zwei Jahren mit Architekten und Experten viel über die Zukunft der Multihalle nachgedacht und auch international ein sehr großes Interesse festgestellt. Aber ich finde es enorm wichtig, im gleichen Maße auch die Unterstützung der Mannheimer Bürger zu erhalten. Deshalb liegt es uns sehr am Herzen, die Bewohnerinnen und Bewohner der Stadtteile Herzogenried, Neckarstadt und der ganzen Stadt Mannheim aktiv in das Thema einzubinden.

Georg Vrachliotis       Ich denke, das funktioniert am besten mit einem Nutzungs- und Betriebskonzept, das die Halle nach der Sanierung zu einer wirklich offenen Plattform für unterschiedlichste Akteure macht – und im Endeffekt für alle Bürger.

Lothar Quast       Ja, das zukünftige Nutzungskonzept der Multihalle wird wesentlich aus den Ideen der Bürgerinnen und Bürger entwickelt werden. Mit den Bürgertagen im September 2018 ist es bereits auf sehr konstruktive, kreative und auch emotionale Weise gelungen, die Menschen vor Ort einzubinden. Auf die Ergebnisse dieser wichtigen drei Tage wollen wir jetzt aufbauen.

Georg Vrachliotis       Die Europäische Kommission führt 2018 das Europäische Kulturerbejahr Sharing Heritage durch. Was versprechen Sie sich von diesem Veranstaltungsprogramm in der Multihalle, das im Frühjahr beginnt?

Lothar Quast       Das Dezernat IV hat in Kooperation mit der kulturellen Stadtentwicklung den Antrag „Eutopia Multihalle – Eine vergessene Utopie als Modell kultureller Stadtentwicklung“ eingereicht – und man hat uns eine Kofinanzierung des Veranstaltungsprogramms bewilligt. Die Neuentwicklung der Multihalle kann jetzt also mit Veranstaltungen erfolgen, in denen sich Öffentlichkeitsarbeit, Informationsveranstaltungen, Ko-Kreation und Kultur überlagern. Niedrigschwellige Angebote dienen dabei als Türöffner. Ich denke, dass wir uns nun alle auf einen sehr spannenden Sommer in der Multihalle freuen dürfen.

Lothar Quast ist seit 1989 Bürgermeister der Stadt Mannheim und Leiter des Dezernats IV für Bauen, Planung, Infrastruktur, Stadterneuerung, Wohnungsbau, Verkehr und Sport. Seit 2017 ist der Jurist Vorsitzender des Vereins Multihalle e.V., der sich für den Erhalt und die Neuentwicklung der Multihalle engagiert.

Georg Vrachliotis ist Professor für Architekturtheorie und Leiter des Südwestdeutschen Archivs für Architektur und Ingenieurbau (saai) am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Er ist Autor zahlreicher Publikationen zur Architekturgeschichte und veröffentlichte unter anderem die Bücher „Frei Otto. Carlfried Mutschler. Multihalle“ und „Frei Otto. Denken in Modellen“), beide erschienen im Spector Verlag, Leipzig.

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