»Man muss mehr denken,
mehr forschen, entwickeln,
erfinden und wagen…«

Frei Otto

Die Geschichte

Es war, als wäre mitten in der Stadt ein UFO gelandet.
„Das Wunder von Mannheim“ schrieb 1975 die Wochenzeitung DIE ZEIT, als zur Bundesgartenschau die Multihalle erbaut wurde
– und eine neue architektonische Dimension erschloss.

Der filigran geschwungene Bau der Architekten Carlfried Mutschler und Frei Otto ist die bis heute größte freitragende Holzgitterschalenkonstruktion der Welt. Die Multihalle ist eine Ikone der Architektur und Ausdruck einer Zeit, die von der Suche nach neuen und freieren Formen des Bauens bestimmt war.

Nachdem die Entscheidung gefallen war, erstmals in Mannheim eine Bundesgartenschau auszurichten, wurden zwei bundesweite Wettbewerbe für die Planung ausgeschrieben. Der Mannheimer Architekt Carlfried Mutschler ging mit dem Gartenarchitekten Heinz H. Eckebrecht als Gewinner für die Gesamtplanung des Teilbereichs am Herzogenriedpark hervor. Für den Bereich, wo die heutige Multihalle steht, hatte Mutschler eine temporäre Konstruktion aus scheibenartigen Dachelementen vorgesehen, die an überdimensionalen Ballons befestigt und so einen überdachten, stützenfreien Raum ermöglichen sollten. Nachdem er das Bild der schwebenden Dachlandschaft aufgrund von baurechtlichen Bedenken endgültig verwerfen musste, holte er Frei Otto zur Unterstützung hinzu. Keine unübliche Vorgehensweise, denn Otto, der mit der Überdachung des Münchener Olympiageländes 1972 für Aufsehen gesorgt hatte, war ein Vordenker – und viele seiner Bauwerke sind in Kooperationen entstanden.

Passagen aus diesem Text stammen aus dem Buch „Multihalle – Frei Otto, Carlfried Mutschler“ von Prof. Dr. Georg Vrachliotis.
Weitere Infos zum Buch „Frei Otto. Denken in Modellen“ von Prof. Georg Vrachliotis gibt es hier.

»Frei Otto sah in seinen Modellen kulturelle Indikatoren, die in ihrer Bedeutung häufig über die rein physische Haptik des einzelnen Objektes hinausgehen und als experimentelle Symbole für eine offene Gesellschaft gelesen werden müssen. Die Multihalle verkörpert dies wie kein zweites Gebäude des 20. Jahrhunderts.«

Prof. Dr. Georg Vrachliotis

Die Architektur

Für die Multihalle entwickelte Frei Otto eine Dachkonstruktion, die zu ihrer Zeit neuartig war: Eine filigrane Holzstruktur überspannt verschiedene Räume. Einen geschlossenen Veranstaltungsraum – die eigentliche Halle – ebenso wie Stege und Freiräume sowie betriebliche Anlagen. Dieses Holzgitterschalendach, bis heute weltweit das größte seiner Art, kommt ohne rechte Winkel aus und schmiegt sich in biomorph wirkender Weise in die Parklandschaft.

Um die Grundidee einer mit lichtdurchlässigem Gewebe überspannten Gitterschale zu visualisieren, wurde in einem ersten gemeinsamen Workshop von Frei Otto und Carlfried Mutschler ein kleines  Konzeptmodell aus einem feinmaschigen Fliegengitter geformt und mit bunten Stecknadeln probeweise auf einer Bodenplatte aus Balsaholz fixiert.

Das Konzept von Mutschler sah vor, dass die Multihalle optisch mit der Topographie der aufgeschütteten Hügel und künstlichen Wasserläufe verschmelzen soll.

Die Multihalle besteht aus zwei Schalen, die durch einen überdachten Steg verbunden sind. Die gesamte Konstruktion misst 160 × 115 m. Der höchste Kuppelpunkt befindet sich 20 m über dem Fußboden. Ihre maximale Querspannweite beträgt 60 m, in der Längsrichtung überspannt sie bis zu 85 m. Die Schalenkonstruktion besteht aus kreuzweise in zwei bzw. vier Lagen übereinander verlegten Latten aus kanadischer Hemlocktanne, in einem Abstand von 50 cm. Der Lattenquerschnitt beträgt 5,5 cm. Die Form wurde im Atelier Warmbronn mit Hilfe eines Hängemodells ermittelt und von Klaus Linkwitz fotogrammetrisch ausgewertet und in ein digitales Modell umgewandelt. Die komplexen Berechnungen führte dann Ted Happold bei Ove Arup in London durch.

Die Überprüfung der Berechnungen zur Standsicherheit wurde mit wassergefüllten Mülltonnen, die an die Dachkonstruktion gehängt wurden, erbracht. 1974 startete die Montage der monumentalen hölzernen Gitterschale. Nach erfolgreichen statischen Belastungstests wurde die Multihalle zur Bundesgartenschau 1975 planmäßig eröffnet.

Die erste Plane aus PVC-beschichtetem, geschwärztem Trevira-Gewebe wies recht schnell undichte Stellen auf und wurde 1981 durch eine weiße, deutlich haltbarere Plane ersetzt.

Die Multihalle ist bis heute die größte Holzgitterschalenkonstruktion der Welt. Sie gilt als Vorläufer der großen verglasten Kuppeltragwerke der Gegenwart.

1978 wurde die Multihalle mit dem Hugo-Häring-Preis, dem bedeutendsten Architekturpreis Baden-Württembergs, ausgezeichnet. Seit 1998 steht der Bau unter Denkmalschutz und ist damit eines der jüngsten Baudenkmäler Deutschlands.

Bis heute inspiriert die einzigartige Struktur der Multihalle Architekten, Städteplaner und Wissenschaftler in aller Welt – und die Mannheimer Bürger, die diesen Ort nun jetzt als offenen und vielseitig nutzbaren Raum neu entdecken.

Die Architekten

Der Architekt und Architekturtheoretiker Frei Otto (* 31. Mai 1925; † 09. März 2015) war ein Pionier des ökologischen Bauens und ein wichtiger Vertreter der organischen Architektur. Spinnennetze, Blattstrukturen und Seifenblasen inspirierten ihn zu seinen innovativen Modellen. Otto wurde international bekannt mit seinen organischen Baukonstruktionen wie der Überdachung des Olympiageländes in München, die er für die Olympiade 1972 mit dem Büro Günther Behnisch und Partner verwirklicht hat. Ottos architektonisches Ideal war das Bauen mit minimalen Verbrauch von Materie, Fläche und Energie und seine Modelle und Bauten können als experimentelle Symbole für eine offene Gesellschaft verstanden werden. Im Jahr 2015 wurde Frei Otto posthum mit dem Pritzker Architecture Prize ausgezeichnet, der seit 1979 an international herausragende Architekten vergeben wird.

Der Architekt Carlfried Mutschler  (* 18. Februar 1926; † 22. Februar 1999) hat das architektonische Bild Mannheims maßgeblich geprägt. Von ihm entworfen sind etwa die Erweiterung des Reiß-Engelhorn-Museums, das Mannheimer Stadthaus, das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung, die Wohnanlage Herzogenried-Siedlung sowie diverse Schulen und Kirchen in der Stadt. Mutschlers Werk war mit charakteristischen Merkmalen wie klaren Linien, Kanten und Sichtbeton deutlich von seinem Studium bei Egon Eiermann in Karlsruhe geprägt. In den 1950er-Jahren jedoch sorgte die Begegnung mit dem expressionistischen Bauen von Hans Scharoun und Hugo Häring für einen Wandel in seinem Schaffen. Als gebürtiger Mannheimer blieb Mutschlers Lebensmittelpunkt trotz seiner Lehrtätigkeiten in Stuttgart und Frankfurt stets in der Quadratestadt.

Städtebauliche
Bedeutung

Neben ihrer ingenieurtechnisch wegweisenden Position in der Architekturgeschichte ist die Multihalle auch für die Entwicklung der Stadt Mannheim von besonderer Bedeutung. Die Ausrichtung der Bundesgartenschau 1975 markierte einen charakteristischen Punkt in der Entwicklung Mannheims weg von einer Industriestadt hin zu einer innovativen, modernen Stadt, symbolhaft verkörpert durch das neuartige Bauwerk im Herzogenriedpark.

Die zur Bundesgartenschau 1975 durchgeführte Neugestaltung des Herzogenriedparks und die Wohnbebauung Herzogenried als neuartiges Modell des „Wohnens im Grünen“ waren über die Bundesgartenschau hinaus städtebauliche Meilensteine zur Aufwertung des Stadtteils. Darüber hinaus profitierten Stadt und das Quartier jahrelang von der Multihalle als vielfältig nutzbarem Veranstaltungsort für Vereine und andere Institutionen.

Die Erhaltung der Multihalle ist ein Bekenntnis zur Neckarstadt, wie bereits die Errichtung der Multihalle ein Bekenntnis zu diesem Mannheimer Stadtteil war. Es bietet sich die Chance einer flussübergreifenden Verklammerung der Mannheimer Stadtteile und ihrer Freizeit-, Kultur- und Bildungseinrichtungen – aus einer Randlage entwickelt sich ein zentraler Begegnungsort, von dem neue Entwicklungen ausgehen und der eine positive Wahrnehmung und Wirkung weit über die Stadtgrenzen hinaus erzielt.